Dennys Bornhöft zu TOP 15 „Geschehnisse im Rahmen von Kinderkuren aufarbeiten“
„Die Berichterstattung des NDR zur Kinderverschickung in den 50er bis 90er Jahren hat mich erschreckt. Kinder, teilweise nur fünf Jahre alt, wurden auf ärztlichen Rat hin deutschlandweit auf Kur geschickt. An sich gut. Denn sie litten vielfach unter Bronchitis, waren der ärztlichen Meinung nach zu dünn oder zu dick. Auf ärztliche Anweisung sollten sich die Kinder an der Ostsee oder in den Bergen erholen und schnell genesen. Dies wurde aller Wahrscheinlichkeit nach auch den Eltern so verkauft, sodass auch sehr junge Kinder für sechs Wochen und länger weg von ihren Familien in weit entfernte Kuranstalten geschickt wurden, auch nach Schleswig-Holstein. Man verbindet mit einem Kuraufenthalt eine Zeit der Genesung in einer schönen Einrichtung. Mithin eine Zeit des Erholens, sowohl in physischer als auch psychischer Art und Weise. Doch was laut Opferberichten hier vielfach geschah, ist erschreckend und beschämend!
Die Berichte reichen von einfachen Prügeln bis hin zu wahrem Psychoterror. Kinder sollten zu 100 Prozent gehorchen. Taten sie es nicht, wurden sie geschlagen, so berichten es Opfer. Manche Erzieher versuchten gar, die Kinder durch Schlafentzug zu züchtigen oder bedrohten sie auf andere Weise. Toilettengänge wurden abgelehnt, bettnässende Kinder wurden öffentlich erniedrigt. Wurde das Essen nicht aufgegessen, wurde nachgeholfen. Selbst wenn die Kinder sich erbrechen mussten, wurden sie zum Aufessen samt des Erbrochenen gezwungen. Die Folge waren Angstzustände und Minderwertigkeitskomplexe, die bis heute andauern. Im November des letzten Jahres haben sich ehemalige ‚Verschickungskinder’ auf Sylt getroffen, um auf einem Kongress über ihre Vergangenheit zu berichten und vor allem in einen Austausch über diese Erlebnisse zu kommen. Von Erziehungsmethoden aus der Zeit des Nationalsozialismus, Gewalt und Erniedrigungen war die Rede – für mich als Sozialpolitiker nicht nur aus pädagogischer Sicht inakzeptabel. Es ist vor allem aus politischer, aber auch menschlicher Sicht nicht hinnehmbar.
Der Gedanke, dass ein junger Mensch, ein Kind, stets zu gehorchen hatte, immer stark sein musste, niemals Schwäche zeigen durfte, wurde scheinbar bei vielen Personen nach 1945 nicht abgelegt, sondern leider noch Jahre und Jahrzehnte aktiv weiterbetrieben und an den schwächsten der Gesell- schaft, den Kindern, in Abwesenheit der elterlichen Sorge ausgelebt. Auch hier ist leider davon auszugehen, dass dies nicht nur in Schleswig-Holstein, sondern bundesweit vielfach geschehen ist. Es ist kein Thema, zu dem es von den jeweiligen Fraktionen unterschiedliche Haltung geben wird. Parteipolitik oder -ausrichtung ist hier irrelevant. Wir müssen die Rahmenbedingungen setzen, dass auch bei diesem leidvollen Thema der Kinderverschickungen Archive geöffnet werden, damit Betroffene mehr über die Hinter- gründe erfahren können. Die Fragen, ob und inwieweit systematisches Vor- gehen bei den Organisatoren der Kinderheilkuren vorlag als auch, ob die Missstände seinerzeit bereits gemeldet, aber nicht ernst genommen wurden, müssen geklärt werden.
Außerdem muss denjenigen zugehört werden, die aus dieser Zeit zu berichten haben. Ohne wenn und aber möchte ich daher den Kollegen aus der SPD-Fraktion danken, dass Sie zu diesem Thema einen Antrag gestellt haben. Wir lenken somit einen Fokus hierauf, sodass über die Berichterstat- tung des NDR hinaus weiter über die Geschehnisse in dieser Zeit gesprochen wird, sich auch weitere Zeitzeugen melden. Es ist mir ein Anliegen, dieses Thema konstruktiv zu begleiten und mich für eine weitere Aufklärung über die damaligen Ereignisse einzusetzen. Das Schicksal derer, die Unrecht erfahren haben, wird aufgearbeitet werden. Ihre Geschichten, ihre Erlebnis se werden gehört werden. Und seien Sie sich sicher, wir werden Sie ernst nehmen. Wir haben gerade erst den Zwischenbericht der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle und Medikamentenversuche an Kindern zwischen 1949 und 1975 im Sozialausschuss vorgestellt bekommen. Das nach meinem Empfinden widerliche Menschenbild, welches von Aufsichtspersonen gegenüber ihren Schutzbefohlenen zu Tage gelegt wurde, ist offenkundig kein Menschenbild gewesen, welches ausschließlich nur in den Kliniken vorherrschte.“